Spannung, Stürze, starke Sprints
Rückblick auf die erste Hälfte der Jubiläums-Tour
Nichts ist entschieden. So lautet das Fazit bei Halbzeit der Tour de France. Und das ist - zumindest wenn man die letzten Jahre nimmt - eine überraschende Zwischenbilanz. Zuletzt war schon meist nach der ersten Bergetappe nur noch die Frage zu klären, wer wird Zweiter. Doch auf der Jubiläums-Rundfahrt zum 100. Geburtstag hat Tour-Dominator Lance Armstrong Schwächen gezeigt.
Nicht mehr der Souverän: Lance Armstrong muss kämpfen.
Im Teamzeitfahren demonstrierte seine Mannschaft mit einem überlegenen Sieg zwar ihre Stärke, doch die Konkurrenten machten sich in den Alpen daran, den viermaligen Sieger der Grande Boucle durch ständige Attacken zu zermürben - scheinbar mit Erfolg. Der Amerikaner selbst ist - zumindest öffentlich - nicht mehr so souverän: "Ich bin nicht so stark wie die letzten Jahre."
Ullrichs Comeback im Prolog
Starker Auftritt im Prolog: Jan Ullrich
Das deutete sich schon beim Prolog in Paris an: Armstrong belegte nur den siebten Platz. Für einen wie ihn, der seinen Rivalen gerne schon früh seine Stärke zeigt, zu wenig. Zumal sich Jan Ullrich auf dem 6,5 Kilometer langen Kurs am Fuße des Eiffelturms beeindruckend zurückmeldete. Der Bianchi-Kapitän war im Ziel fünf Sekunden schneller als Armstrong und konnte hinterher konstatieren: "Ich bin riesig zufrieden." Noch zufriedener war Bradley McGee. Der Australier aus dem Rennstall FDJeux.com übernahm als erster Profi das begehrte Gelbe Trikot des Gesamtführenden. McGee profitierte dabei allerdings von einem Defekt bei David Millar. Der Brite von Cofidis wäre wohl der Schnellste gewesen - so musste er sich mit Platz zwei begnügen.
Petaccollini - das Schauspiel der ersten Tage
In den Tagen danach folgte die Alessandro-Petacchi-Show. Schon auf der ersten Etappe zeigte der italienische Sprinter der Konkurrenz, wem die schnellsten Beine im Peloton gehörten. Unwiderstehlich war der Fassa-Bortolo-Profi auf den letzten Metern allen davon gefahren, so dass selbst Erik Zabel staunte: „Ich bin noch auf ihn draufgefahren und bis zu seinem Tretlager gekommen; aber dann ist er angetreten und hat uns allen gezeigt, wo der Hammer hängt.“ Auf den Etappen drei, fünf und sechs wiederholte sich dieses Schauspiel noch drei Mal. Jedes Mal sprintete Petacchi seine Rivalen in Grund und Boden.
Drei Finger für den dritten Etappensieg: Alessandro Petacchi
Prompt wurde der 29-Jährige als legitimer Nachfolger seines Landsmanns Mario Cipollini gefeiert. „Er bleibe lieber der alte Petacchi“, wies der Sprinter derartige Vergleiche zurück und sorgte gleich am ersten Berg der Tour dafür, dass das Bild vom Petaccollini sich verfestigte. Der Italiener beendte die Rundfahrt, nachdem ihn die Kameras dabei gezeigt hatten, wie er sich in Schlangenlinien bergauf quälte. Da setzte es sogar einen Rüffel von seinem Sportlichen Leiter Giancarlo Feretti: „Ich entschuldige mich bei allen Leuten, die mit Petacchi vorher gejubelt haben, und bei allen Journalisten, die enthusiastisch über ihn geschrieben haben. Ich will mich entschuldigen, weil ich mich schäme, dass Petacchi aufgegeben hat.“
Der Gescholtene entschuldigte sich kleinlaut: „Ich weiß, dass ich dem Team Probleme bereitet habe, und es tut mir Leid wegen der Aufgabe.“ Mit Petacchi gab auch sein Teamgefährte Velo das Rennen während der siebten Etappe auf, einen Tag später folgten vier weitere Fassa-Fahrer. Ein Virus habe die Mannschaft heimgesucht, dem offenbar auch Petacchi zum Opfer gefallen war: "Wir wissen jetzt, dass auch Alessandro Petacchi von dem Virus betroffen war, das unter unseren Sportlern kursiert. Petacchi ist jetzt zuhause und liegt mit Fieber im Bett", hieß es in einer Erklärung des Rennstalls. Dennoch - ein Beigeschmack blieb.
Gefrusteter Zabel
Unterdessen hatte Erik Zabel Probleme mit seinem Team. Der 33-Jährige - der lange den lockeren Telekom-Kapitän gemimt hatte - verlor nach der fünften Etappe die Contenance: "Wir haben vorher darüber gesprochen, dass ich vielleicht noch einen Helfer mitbekomme. Ich habe gehofft, dass den Worten auch Taten folgen. Jetzt bin ich schon ziemlich oft alleine im Finale gewesen“, grantelte er. Ein dritter und drei vierte Plätze standen zu diesem Zeitpunkt zu Buche, doch richtig schlecht wurde die Laune erst nach der sechsten Etappe. Zabel stürzte sechs Kilometer vor dem Ziel und verletzte sich am Ellenbogen.
Die Tour der Leiden
Die Stürze waren ohnehin ein eigenes Kapitel der ersten Tourhälfte. Schon auf der ersten Etappe sorgte ein spektakulärer Massensturz in der letzten Kurve vor dem Ziel für reichlich Diskussionsstoff. „Hier wird gefahren, als ginge es um Leben und Tod“, staunte Tour-Debütant Olaf Pollack, nachdem er sein Rad über den Zielstrich in Meaux getragen hatte.
Zu den Opfern des Crashs zählten die Rabobank-Profis Levi Leipheimer und Marc Lotz, für die die Tour da schon gelaufen war. Andreas Klöden vom Team Telekom hielt noch bis zur neunten Etappe durch, doch dann ließen ihn die Schmerzen im Steißbein endgültig aufgeben. Tyler Hamilton scheint dagegen schmerzresistent zu sein. Der CSC-Profi, der zu den Mitfavoriten zählt, quält sich seitdem Sturz von Meaux mit einem doppelten Schlüsselbeinanbruch durch die Tour. Zu merken ist das nicht - Hamilton liegt auf Platz fünf der Gesamtwertung.
Brutales Ende der Tour für Joseba Beloki
Am schlimmsten erwischte es allerdings Joseba Beloki. Der Baske - in den letzten drei Jahren stets auf dem Podium in Paris - musste seinen Traum vom Toursieg auf der neunten Etappe begraben. Oberschenkel, Ellenbogen und Handgelenk des Tourzweiten 2002 gingen zu Bruch, als von Hitze aufgeweichter Teer in einer Kurve sein Hinterrad ausbrechen ließ und Beloki daraufhin schwer stürzte - bei Tempo siebzig.
Aldag fordert Virenque
"Das wäre meine Tour gewesen", sagte Beloki nach dem Unfall unter Tränen. Dass der 29-Jährige in diesem Jahr ernsthaft Jagd auf Armstrong machen wollte, hatte er zuvor bei den Alpen-Etappen bewiesen. Die drei Teilstücke im Hochgebirge trennten die vermeintlichen von den wirklichen und den überraschenden Konkurrenten von Lance Armstrong. Schon beim ersten Ritt über die Alpenpässe mussten Santiago Botero (TEL) und Giro-Sieger Gilberto Simoni (SAE) erkennen, dass sie mit dem Ausgang der Tour nichts zu tun haben würden.
Ungewohntes Dress: Rolf Aldag im Bergtrikot
Geprägt wurde die erste Bergetappe allerdings von Richard Virenque (QSD) und Rolf Aldag (TEL). Der Franzose triumphierte in Morzine, schlüpfte ins Gelbe und ins Gepunktete Trikot. Seine Landsleute schlossen den lange Zeit skeptisch beäugten Sohn daraufhin wohl endgültig in ihre Herzen. Die deutschen Radsportfans jubelten derweil über Telekom-Profi Rolf Aldag. Der Westfale musste erst am letzten Berg abreißen lassen und belegte am Ende Platz zwei. Zur Belohnung durfte er am Tag darauf das Gepunktete Trikot tragen - ausgerechnet nach L'Alpe d’Huez. "Das geht ja gar nicht. Eigentlich müsste ich mir eine Regenjacke überziehen", witzelte der lange Aldag gewohnt trocken.
Mayo und Vinokourov unwiderstehlich
Dass Aldag auf dem legendären 15 Kilometer langen Schlussanstieg nach L'Alpe d’Huez keine Rolle spielen würde, war auch den Experten klar. Sie rechneten mit einer Attacke des Postmanns. Tatsächlich stürmte das US-Postal-Team angeführt von Manuel Beltrán am Fuße des Anstiegs drauflos und sprengte das Feld in kürzester Zeit auseinander. Auch Jan Ullrich musste abreißen lassen, zumal ihn hohes Fieber in den Tagen zuvor geschwächt hatte. Doch das hohe Tempo war selbst für Armstrong „viel zu schnell“. Statt Armstrong raste Iban Mayo an diesem Tag dem Ziel unwiderstehlich entgegen. Vor lauter Freude über seinen Sieg verschenkte er sogar ein paar Sekunden für die Gesamtwertung.
Triumph in L'Alpe d'Huez: Iban Mayo
Anders als Alexandre Vinokourov. Der Kasache im Magenta-Trikot der Telekom erreichte L'Alpe d'Huez als Zweiter - mit 27 Sekunden Vorsprung auf Armstrong. Der übernahm an jenem Tag dennoch sein bevorzugtes Kleidungsstück in gelb und konnte in der Gesamtwertung einen Vorsprung von 2'10 Minuten auf Ullrich verbuchen. „Das ist die positive Nachricht des Tages“, fand der Texaner. Doch mit Vinokourov war ihm an diesem Tag auch ein neuer, ernsthafter Konkurrent erwachsen. Der blonde Kasache unterstrich seinen Willen, bei der Tour diesmal auf dem Podium zu landen, auch einen Tag später auf dem Weg von Bourg d'Oisans nach Gap. Am letzten Anstieg der neunten Etappe attackierte 29-Jährige erneut, setzte sich ab und sicherte sich den Tagessieg mit 36 Sekunden vor den anderen Favoriten. Dank einer Zeitgutschrift verringerte Vinokourov seinen Rückstand gegenüber Armstrong auf 21 Sekunden. „Wir sind wahnsinnig zufrieden“, konnte Telekoms Sportlicher Leiter Mario Kummer darum bilanzieren. Und den Fans geht das ebenso. Denn: Entschieden ist noch gar nichts.
von: http://www.tour.ard.de
Mats
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